Bio 3.0-Wissen No. 41: Mit Haut und Haar-Ganzheitliche Verwertung
Lebensmittelqualität / ganzheitliche Verwertung
Ganzheitliche Verwertung. Während für unsere Großeltern und teilweise auch Eltern das Schlachten, Verarbeiten und Essen ganzer Nutztiere meist selbstverständlich war, sind wir gewohnt, hauptsächlich die edlen Fleischteile zu konsumieren und den Rest zu verschmähen. Das ist aus mehreren Gründen kritikwürdig.
Die gute Nachricht: Spitzengastronom/innen, Foodies und nachhaltige sowie kulinarisch interessierte Konsument/innen finden zunehmend wieder zurück zu Innereien und Co – und da Bio und Nachhhaltigkeit Hand in Hand gehen, leistet die Biolandwirtschaft auch auf diesem Gebiet Pionierarbeit.
Der Brite Fergus Henderson führt seit 1994 in London das St. John, das als eines der 50 besten Restaurants weltweit gilt. Er ist ein Vorreiter, wenn es um die ganzheitliche Verwertung unserer Nutztiere geht. Von ihm stammt auch die vielleicht schönste Definition für den „Nose-to-Tail“-Ansatz: „Nose to Tail Eating will sagen, dass es dem Tier gegenüber unanständig wäre, es nicht von Kopf bis Fuß zu verwerten.“
Tatsächlich, wenn man Überlegungen der Ethik und Nachhaltigkeit anstellt, kommt man schnell zu dem Schluss: Ein Nutztier besteht aus wesentlich mehr als Filet, Schnitzel oder Brust. Wir essen aber, je nach Tierart, nur 40 bis 55 % des geschlachteten Tieres. Der Rest, also Borsten, Fette, Knochen, Darminhalte und auch Innereien, geht als „tierische Nebenprodukte“ in den Export, ins Tierfutter, in die Chemie- und Düngemittelindustrie oder wird zu Biokraftstoff. Innereien kommen immer seltener auf den Tisch, Daten für Deutschland weisen für 1984 noch einen Konsum von 1,5 kg pro Kopf und Jahr aus, 2013 waren es nur noch 150 g.
Was der Bauer nicht kennt…
Dass so viele von uns keine Innereien mehr mögen, hat sensorische und gesellschaftliche Gründe. Viele Innereien schmecken und/oder riechen sehr intensiv, das mag einfach nicht jeder. Entscheidender dürfte aber wohl der so genannte Effekt der bloßen Darbietung sein, demzufolge der Mensch gerne isst, was er oft isst. Oder umgekehrt: „Was der Bauer nicht kennt, isst er nicht.“ Je weniger wir also mit außergewöhnlicheren Fleischteilen in Berührung kommen, desto unwahrscheinlicher schmecken sie uns. Dass wir allerdings mit Innereien und Co in Kontakt kommen, ist sehr unwahrscheinlich geworden. Wir haben uns von der Fleischwirtschaft entfremdet, kaum jemand hat heutzutage je das Schlachten und Zerlegen eines Nutztieres erlebt. Und ebensowenig wissen wir die außergewöhnlichen Teile zuzubereiten.
Dabei war es für den überwiegenden Teil der Menschheitsgeschichte Normalität, das ganze Tier zu essen: Aus der Steinzeit über die Antike, vom Mittelalter bis in die Neuzeit sind jede Menge Quellen überliefert, wie geschätzt unter anderem Innereien waren. Dass wir sie heutzutage weitgehend verschmähen, ist also eine sehr junge Entwicklung, man könnte sie durchaus als Wohlstandsphänomen bezeichnen: Mit dem Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegszeit wurde das einst teure Fleisch immer billiger und verdrängte die Arme-Leute-Eiweißquelle Innereien mehr und mehr vom Speiseplan der breiten Masse. Doch auch heute noch werden in weiten Teilen der Welt tierische Nebenprodukte nach wie vor selbstverständlich gegessen.
Auch aus ernährungsphysiologischer Sicht sollten wir unseren Konsum überdenken. Innereien, allen voran Leber, sind nährstoffreich und in der Regel fett- und damit kalorienarm. Dennoch genießen sie keinen guten Ruf – Schuld daran sind Cholesterin und Schadstoffe. Der zugegebenermaßen hohe Cholesteringehalt von Innereien scheint aber für Stoffwechselgesunde kein Problem zu sein. Und die Schadstoffproblematik darf man nicht wegleugnen: Innereien erweisen sich immer wieder als belastet, unter anderem zeigten aber Auswertungen eines großen Projektes des deutschen Bundesinstituts für Risikobewertung, dass, in Maßen genossen und im Rahmen einer pflanzenbetonten Mischkost, Innereien von Schwein, Kalb oder Rind durchaus ihre Berechtigung haben.
Ob Schweineohren oder Nieren – von der Nase bis zum Schwanz ist eine kulinarische Rückbesinnung auf den Gedanken der Ganzheitlichkeit und eine Wertschätzung dem Nutztier gegenüber – vor allem, wenn es artgemäß und biologisch gehalten wurde.
In der biologischen Tierhaltung geht es immer auch um eine Wertschätzung des landwirtschaftlichen Nutztieres. Eine möglichst ganzheitliche Verwertung des geschlachteten Tieres ist daher nur eine logische Konsequenz.
Quellen: Henderson, F. (2014): Nose to Tail. Verlag Echtzeit; Heinrich-Böll-Stiftung (2014): Fleischatlas extra: Abfall und Verschwendung Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) (2010): Aufnahme von Umweltkontaminanten über Lebensmittel (Cadmium, Blei, Quecksilber, Dioxine und PCB). Ergebnisse des Forschungsprojektes LexUKon; Hirschfelder, G. (2001): Europäische Esskultur. Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute. Campus Verlag, Frankfurt/Main
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